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Ich schreibe wütende Blog-Artikel, statt in Therapie zu gehen

Dieses Tweet-Pattern nervt mich, weil mir das Thema Mental Health bei Männern aus persönlichen Gründen unglaublich nah geht. Welcome to my Wut-Talk.

CN Suizid

Ein populäres Tweet-Muster geht so: „Männer [Aktivität einfügen], statt in Therapie zu gehen.“ Ich weiß, wahrscheinlich ist das irgendwie lustig gemeint. Und ich weiß: Der Punkt, an dem Leute ihren Humor verlieren, ist meistens umständlich und unangenehm. Ich mag dieses Pattern nicht, mochte es von Anfang nicht und kann die Beliebtheit, die es besonders in Kreisen weiblicher User*innen gewonnen hat, nicht nachvollziehen. Diese Kritik, die ich an dem Baukasten geübt habe, ist ihrerseits auf Ablehnung und Unverständnis getroffen – ich hätte doch keine Ahnung, worüber ich da spreche.

Es mag sein, dass ich keine Ahnung davon habe, was konkret die Motivation ist, die hinter dem Verfassen und Weitertragen dieses Memes steht. Ich weiß nur, dass ich eine starke Aversion spüre, wenn ich „Männer spielen League of Legends statt in Therapie zu gehen.“ und ähnliches lese. Der Grund dafür ist ein sehr persönlicher, in den ich gerne einen skizzenhaften Einblick gewähren möchte: Ich kenne Männer, denen ich nichts sehnlicher wünschen würde, als Spaß an einem Computerspiel zu haben. Denen ich die Fähigkeit für Eskapismus und Gedankenverlorenheit wünsche, Leichtigkeit und Freude an Dingen, denen kein höherer Sinn überstellt ist. Die so traurig sind, dass Menschen auf sie Acht geben müssen, die das gelernt haben. Die unter all dem, was dem Mann-Sein mitgegeben wird, so leiden, dass sie nicht einmal mehr Mensch sein möchten.

Psychotherapie ist Intervention und Prävention, es ist Medikament und Notbremse. Es dient denjenigen, die sie in Anspruch nehmen, damit sie lernen mit Gedanken, Gefühlen, Handlungen und Gewohnheiten umzugehen, die ihnen schlecht tun. Eine Therapie soll Leidensdruck nehmen und die Selbstakzeptanz fördern. Sie ist nicht primär dazu gedacht, Handlungen abzugewöhnen, die außerhalb der zu therapierenden Persönlichkeit für Unverständnis oder Schmerz sorgen. Wenn ein nazistisches Arschloch in diesem Dasein keinen Leidensdruck spürt, weshalb sollte diese Person einen Anlass haben, sich therapieren zu lassen?

Psychische Erkrankungen bei Männern sind real und verlaufen real schlimm. Männer, die euch auf die Nerven gehen, lesen diese Tweets vielleicht – sie sind ihnen aller Wahrscheinlichkeit nach aber völlig egal. Wem diese Tweets vielleicht nicht egal sind, das sind Männer, die sich fragen: Geht’s mir schlecht genug, um Hilfe anzunehmen? Kann ich das nicht alles allein machen? Sollte ich das nicht alles allein schaffen? Wird nicht von mir erwartet, dass ich alles allein schaffe?
Wer das Geheimrezept zu „Wie mache ich mich frei von Rollenbildern und den Ansprüchen, von denen ich glaube, dass die Gesellschaft sie an mich stellt.“ kennt, darf sich gerne direkt bei mir melden. Ich bin sehr interessiert!


Statistiken zum Thema „Mentale Männergesundheit“ stellen dem Pattern erbarmungslose Zahlen gegenüber: Männer begehen Suizid, statt in Therapie zu gehen. „Weltweit nehmen sich jährlich etwa 800 000 Menschen das Leben. Auf 10 Frauen kommen dabei durchschnittlich 18 Männer, in Deutschland sogar 27. Deutlich höher ist die Zahl der Suizidversuche, hier bilden allerdings Frauen die Mehrheit. Oft wird argumentiert, dieses »Geschlechterparadox« käme schlichtweg dadurch zu Stande, dass Männer sicherere Wege wie Erschießen oder Erhängen wählen.“ [Quelle]

Diese Verläufe sind real. Dass es Männern schwerfällt, zu erkennen, dass sie Hilfe brauchen, dass sie diese Hilfe verdient haben und annehmen dürfen, das ist real. Dass es im Kontext Mental Health nicht um Unkompliziertheit oder Lebensqualität geht, sondern um Leben und Überleben, das ist real. Und in dieser Realität verliere ich meinen Humor, denn ich weigere mich, über etwas zu lachen, das beschissenes Verhalten zur psychischen Erkrankung deklariert. Oder Rassismus als therapierbar darstellt. Oder therapeutische Intervention wiederholt als Wellnesskur beschreibt, an deren Ende soziale Kompatibilität steht – endlich!

Und diese Forderung steht neben dem manchmal völlig gerechtfertigten Gedanken, dass eine Therapie einem Mann im Umfeld helfen würde: Du weißt, dass der Typ ausschließlich von leistungsorientierten, liebesunfähigen Hölzern umgeben gewesen ist, als er Kind gewesen ist? Er hat dir erzählt, was er als Kind Schlimmes erlebt hat und du vermutest, bestimmte Angewohnheiten oder Verhaltensweisen lassen sich darauf zurückführen? Ja, vielleicht ist das so. Vielleicht ist das auch nicht so. Es würde keine 50 Therapiesitzungen brauchen, die von ausgebildeten Therapeut:innen geleitet werden, wenn Kausalitäten so klar und Gründe so einfach zu beheben wären. Denn selbst wenn sich diese fiktive Person in Therapie begäbe: Am Ende soll es ihr besser gehen in dem Leben, das sie für sich wählt führen zu wollen. Und wenn das 36 Stunden League of Legends zocken beinhaltet, dann wird und soll der Typ das auch weiterhin bitte gerne tun.

Dieses Thema ist mir zu ernst, als dass ich auf seinem Feld feministische Racherechnungen aufmachen wollen würde, innerhalb derer ich zeigefingerwedelnd auf dem imaginierten Potential herumklopfe, das ich in Männern vermute, die bisher einfach – was für ein Dummerchen! – nicht erkannt haben – im Gegensatz zu mir! – dass sie mal ein Buch von Stefanie Stahl lesen und sich danach zur Therapie anmelden sollten, um ihrem inneren Kind endlich die Umarmung zukommen zu lassen, die Mama ihnen verwehrt hat.

Männer, die in Therapie gehen, retten mit diesem Schritt mitunter ihr Leben. Es geht mir in dieser Humorlosigkeit um die radikale Wertschätzung eines hochwirksamen Medikaments, das dafür sorgen kann, dass Menschen am Leben bleiben.

Boys get sad too. Be kind.


Wenn es dir nicht gut geht, gibt es vor dem mit allerhand bürokratischem Aufwand verbundenen Schritt des Therapiebeginns, zahlreiche niedrigschwellige Möglichkeit, dir Hilfe zu holen. Hausärzt*innen, die Krankenkasse, Anlaufpunkte an Universitäten oder auch eigens dafür ins Leben gerufene Vereine oder Kirchengemeinden stehen dir in Notfällen und für zügige Intervention zur Verfügung.
Von zuhause aus erreichst du die Telefonseelsorge, deren Name darüber hinwegtäuscht, dass die inzwischen auch noch anonymer per Chat kontaktiert werden kann.
Unter diesen Nummern erreicht ihr die Hotline 24 Stunden lang durchgängig, auch an Feiertagen: 0800/1110111 oder 0800/1110222.

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