Noch fünf Mal schlafen bis zum Beginn der Expositionswoche. Der Plan hat sich heute ein wenig verändert. Ich werde allmählich unruhig.
Diese Tage sind nicht gut. In einem Maß, wie ich es schon länger nicht mehr hatte. Ich habe meinen Appetit verloren und lag gestern nach Feierabend einfach auf meinem Bett und habe aus dem Fenster geschaut, allerdings nicht auf diese zufriedene Art und Weise wie noch vor einer Woche.
Ich habe gestern einen neuen Job angetreten und irgendwie ging es mir nicht so gut. Ich hatte mich nachts verlegen und Kopfschmerzen. Bis zum Mittag nicht gegessen, darauf eine Ibu. Ich weiß, dass mich das triggert und es ist ein großer Erfolg der Therapie, dass ich daran im Vorhinein kaum mehr einen Gedanken verschwende, sondern das Risiko, dass mir davon schlecht wird einfach eingehe. Also sitze ich da gestern, Zweiersituation mit meiner neuen Vorgesetzten und der Hals wird immer enger. Ich kaue trockenmündig auf meinem Brot herum und schlucke unentwegt. Ich rechne die Strecke bis zur Toilette aus und überlege mir eine handvoll plausibler Erklärungen für eine plötzliche Unterbrechung des Gesprächs. Hintern und Beine sind kalt und kribbeln, ich habe meine Hände nicht mehr richtig unter Kontrolle und denke mal wieder: Man muss es mir ansehen. Es geht nicht anders. Aber das ist nicht der Fall. Sie erzählt weiter ruhig von Museen in Sankt Petersburg und ich fühle mich gefangen.
Der Kloß hat sich auch heute in den Hals geschlichen. Plötzlich war er da und die Hände wurden kalt. Ich schäme mich immer noch so sehr dafür.
Dann kam mittags eine Nachricht: Ich soll nächsten Samstag einen Vortrag halten. Eine größere Veranstaltung, ich vertrete jemanden und werde deren fertig ausgearbeiteten Vortrag übernehmen. Das bedeutet, dass ich 30 Minuten lang für Geld vor Menschen stehen und sprechen werde. In dieser Dimension ist das neu für mich. Ich freue mich extrem über diese Form der Anerkennung und habe sofort zugesagt. Es ist nun allerdings auch hier der Fall, dass meine Gedanken um das Erbrechen kreisen. Versprecher, Fehler, Stottern, Hänger – das ist mir alles denkbar wurscht. Vor Leuten zu sprechen hat mir noch nie Angst bereitet. Mein Kopf ist beherrscht von dem Szenario: Ich kotze den Leuten auf die Festtafel. Der Vortrag fällt deshalb leider aus. Erwartungen enttäuscht. Menschen angeekelt. Plan gestört. Schlecht.
Ich habe meine Therapeutin angerufen, weil der Tag mitten in der Expositionswoche liegt und ich nicht beides – die eigentlich geplante Konfrontation im Reisebus und den Vortrag – machen möchte. Wir haben uns darauf geeinigt, dass ich mal schaue, ob ich für den Rückweg eine Mitfahrgelegenheit finde, sonst ist Zug fahren auch in Ordnung und ich setze die Expo am nächsten Tag wie angedacht fort.
Außerdem hatte ich noch eine zweite Frage an sie: Ich soll mich im Anschluss an die Woche belohnen. Nach jeder einzelnen Exposition soll ich mir etwas Gutes tun (lecker essen, ein Buch kaufen, nicht zur Arbeit gehen o.Ä.) und zum gänzlichen Abschluss etwas wirklich Schönes machen. Ich denke darüber nach, für zwei Nächte wegzufahren und wollte sie fragen, welches Reisemittel ich wählen soll. Fünf Stunden Busfahrt wirken aktuell nicht wie der krass-positive Scheiß. Sie ermutigte mich aber, den Ausflug genauso zu planen: Hinfahrt mit dem Bus („In meinem therapeutischen Optimismus hoffe ich aktuell, dass das bis dahin kein Problem mehr für Sie darstellen wird.“), kleine Alltagspause, Rückfahrt mit dem Zug.
Mein Herz schlägt so schnell bei dem Gedanken daran. Ich bin gerade wirklich dünnhäutig, empfindlich, nicht zufrieden zu stellen. Diese große Negativität des Gefühls ist nicht ohne Strahlung und wirkt sich auf jeden Lebensbereich aus. Sie macht alles anstrengender und weniger schön, weil sie einfach allem in irgendeiner Form anhaftet.
Ich mag diese Phase gar nicht und sträube mich zusehends gegen den gefassten Plan. Ein großes Gefühl der Überforderung taucht immer wieder auf und ich sehne mich nach einer tiefen Umarmung. Körperkontakt beruhigt. Spazieren gehen aber auch – umso besser, dass der Hund sowieso nochmal raus muss.