Heute jährt sich Robert Enkes Todestag zum 10. Mal. Ich war damals gerade nach Braunschweig gezogen, die erste WG, alles war sehr aufregend. Am Abend zuvor bin ich lang auf einer Feier gewesen, verbrachte den Tag verkatert und ohne Nachrichten. Für Fußball interessierte ich mich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Dass Robert Enke sich das Leben genommen hatte, traf mich am Abend eiskalt.
Eine Person in meinem direkten Umfeld war an Depressionen erkrankt. Ich hatte wenig Wissen über diese Krankheit und verstand erst im Laufe dieser Zeit, dass auch meine Mutter Jahre lang mit dieser Krankheit gelebt hat. Plötzlich wurde klar, warum sie immer wieder mit Herzrhythmusstörungen im Krankenhaus gewesen ist, welche Medikamente sie genommen hat, welche davon ihr irgendwann endlich geholfen haben. Weil endlich darüber gesprochen wurde.
Dann wurde ein anderes, mir sehr vertrautes Gesicht plötzlich immer grauer. Kein Tempo mehr in seiner Sprache, keine Scherze mehr, keine Entgegnungen. Sondern eine Person, die auf dem Sofa in meinem WG-Zimmer sitzt, weil sie sich davor fürchtet, in der eigenen Wohnung zu sein solange die Reinigungskraft dort arbeitet. Ratloses Schweigen an irgendwelchen viel zu tiefen Bäckereitischen, Stress dabei, sich mit Blick auf die Frühstückskarte für etwas zu entscheiden.
Er hätte jeden Tag sterben können, ohne zu müssen. Aber was ist schon der freie Wille, wenn die Seele von einem Monster besetzt ist? In diesen Wochen habe ich verstanden, dass alle diese Leben endlich sind. Ich fürchte diese Krankheit, denn sie ist als Gift in Menschen, die ich liebe. Sie ist der ewig schorfige Schnitt innerhalb meiner Familie. Ohne den ich einerseits nie geboren worden wäre. Andererseits ist diese Jahre vor meiner Existenz geschaffene Voraussetzung eben jener, dieser Entschluss einer mir fremden Person, das, was ich am meisten hasse auf der Welt. Meine konkrete Phobie außer Acht gelassen: Nichts jagt mir derart viel Angst ein, wie die Vorstellung, dass mich dieses Gespenst befällt.
Depressionen sind keine Stimmung, keine Laune, keine Schwäche und nicht die Abwesenheit von Willenskraft. Die chemischen Prozesse, die in unserem Hirn dafür sorgen, dass wir funktionieren, sind empfindlich und wenn sie aus dem Gleichgewicht geraten, kann sich außerhalb des Schädels das beste Leben in einem Teich voll Seerosen spiegeln. Das sogenannte ‚Glück‘ findet keine Rezeptoren und kann ohne sie nicht empfunden werden, auch nicht, wenn dem verstehenden Ich klar ist, dass dieses Leben ein gutes ist, eigentlich.
„Eine erbliche Vorbelastung trägt nach dem heutigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu der Entstehung einer Depression wesentlich bei. Denn Depressionen treten familiär gehäuft auf. Sind Verwandte ersten Grades betroffen, liegt die Gefahr, selbst eine Depression zu entwickeln, bei etwa 15%.“, heißt es auf einer Internetseite. Ich weiß nicht, ob ich das in mir trage. Ob es ein Schatten dessen ist, der mich manchmal nach Feierabend vom Bett aus an die Decke gucken lässt, überfordert von dem Gedanken, noch einkaufen gehen zu müssen, weil der Hund sonst kein Futter hat. Ich bin kein psychisch kerngesunder Mensch und irgendwie entlastet mich diese Erkenntnis inzwischen, weil ich Tiefpunkte nicht mehr mit einer Schwäche verbinde, die ich bei anderen nicht sehe, sondern als Symptom von etwas, auf das ich nicht immer Zugriff habe.
Das ist von außen so schwer nachzuvollziehen. Ich kann es bei mir selbst kaum, wie soll das von außen wirklich möglich sein. Meine Überlegung ist, dass genau diese widersprüchliche Schnittstelle dasjenige ist, das uns am Schicksal von Robert Enke derart erschreckt, schockiert und rührt: Eine Person, die große Stärke ausstrahlt, Souveränität, Ruhe, Kontrolle. Im Tor, auf dem Platz und nicht zuletzt daneben. Und natürlich treffen diese Attribute auf ihn zu – nur konnte keines davon gegen diese Krankheit etwas ausrichten. Auch die Liebe nicht, von der Teresa Enke sagt, dass sie beide dachten, dass es „mit ihr geht“. Nichts. Und wenn einem die Brutalität dieser leeren Endgültigkeit keine Angst einjagt, dann weiß ich nicht, was es sonst könnte.
Es ist wichtig, das ernst zu nehmen. Auch wenn es nervt, sich ständig mit etwas konfrontiert zu sehen, das man nicht wirklich verstehen und noch weniger nachvollziehen kann. Den Worten glauben und sich ab und an mit hineinbegeben in das Ringen nach den passenden Formulierungen, um ab und an eben doch eine Verbindung schlagen zu können zwischen Innen und Außen. Auch wenn’s keinen Spaß macht und man sich liebt.