Exposition

Morgen habe ich die letzte Therapiesitzung vor der Exposition. Es ist die 21. Einheit meiner Therapie, seit März bin ich in Behandlung. Ich habe mit meiner Therapeutin in dieser Zeit über zahlreiche Dinge gesprochen: Natürlich über meine Angst, die Situationen, in denen sie auftritt und all das, was mit diesen Situationen verbunden ist. Ziemlich allgemein gesagt sind das: Die Menschen, mit denen ich mich umgebe und meine Beziehung zu ihnen. Außerdem, was mir in Beziehungen schwer, was leicht fällt. Weshalb ich so viel rede. Wovor ich mich in diesen Beziehungen fürchte. Warum ich so schlecht sagen kann, wenn mir etwas nicht gefällt oder ich mich unwohl fühle.

Ich habe immer viel und gern über „diese Dinge“ gesprochen, aber die Erkenntnisse der letzten Monate hatten eine Wucht, die mich besonders zu Beginn wortwörtlich von den Füßen gerissen hat. Ich würde im Rückblick durchaus von Krise sprechen wollen. Der April war furchtbar hart. Aber ich habe meine Einzelteile sortiert, einen Überblick über sie gewonnen und inzwischen passt das eine gelegentlich schon wieder zum anderen. Das ist alles sehr vage ausgedrückt, obwohl es tatsächlich sehr konkret ist, dabei aber derart privat, dass ich diesen Teil nicht ins Internet stellen werde.

Ich vertraue meiner Therapeutin. Sie hat mir geholfen, diesen Weg zu finden, an dessen Anfang ich nun stehe. Unser Verhältnis ist so, wie ich es mir vorher gewünscht hätte: Einseitig, zugewandt, vertrauensvoll, direkt. Nichts wäre schlimmer für mich gewesen als einer ständig vor lauter Mitgefühl gekräuselten Stirn gegenüber zu sitzen. Sie spiegelt mich mit Worten, formuliert Mitgefühl und spart nicht an Anerkennung.

Nächste Woche fahren wir zusammen Bus. Eine Stunde lang. Ich habe Angst davor, mich in der Öffentlichkeit zu übergeben, diese Angst tritt mit erhöhter Wahrscheinlichkeit auf, wenn ich mit Menschen unterwegs bin, die ich kenne und mag. Deshalb habe ich immer Maßnahmen dabei: Tüten, Bonbons, Kaugummis. All das beruhigt mich, denn es vermittelt mir das Gefühl, für meine persönliche Katastrophe immer gewappnet zu sein. Das wird nächste Woche anders sein: Ich fahre ohne alles. Das erste Mal seit Jahren.

Dahinter steckt dies: Der Körper ist nicht dafür ausgelegt, Angst dauerhaft auf dem maximalen Pegel zu halten. Angst ist wie Sprint: Du wirst irgendwann nicht mehr sprinten können. Es geht nicht. Du bist körperlich dazu nicht in der Lage. Genauso bist du körperlich nicht dazu in der Lage, ewig eine Angst von 10 (Auf einer Skala von 1 (Min.) bis 10 (Max.)) zu haben.

Diese Erfahrung soll ich machen. Ich soll spüren, wie meine Angst abflaut, ohne dass ich etwas dafür tue. Ich soll mich nicht beruhigen. Kein Kaugummi soll mir die Angst nehmen. Sie soll von alleine wieder gehen. Das dauert etwa 60 Minuten. Und damit ich und mein Körper sich das merken, soll ich das in den darauffolgenden sechs Tagen wiederholen und zwar mit Situationen, die im Stresslevel steigen. Ich starte also betreut im ÖPNV-Bus und möchte enden im Auto einer fremden Mitfahrgelegenheit. Und ich hasse alles an dieser Vorstellung.

Den Plan, welches Verkehrsmittel ich wann nehme, wo es hinfährt, wie ich zurückkomme und so weiter, den habe ich gestern erarbeitet. Eingangs saß ich an meinem Küchentisch und dachte: Vielleicht habe ich das gar nicht so nötig. Eigentlich läuft es doch sehr prima. Doch die zunehmende Planung beschleunigte meinen Herzschlag und bevor ich das Wort „Mitfahrgelegenheit“ (falsch) notierte, habe ich eine Pause gemacht, in der ich mit wippenden Beinen im Internet nach Dingen gesucht habe, die ich noch schlimmer finde als diese Vorstellung.

Morgen setzen wir die Regeln fest, die für mich in dieser Woche gelten und sprechen alles nochmal durch. Ich werde die nächsten zwei Wochen hier relativ eng dokumentieren wollen. Ich rechne nicht damit, dass es in dieser Zeit besonders intime Dinge sein werden, auf die ich stoße, sondern vielmehr eine emotionale Herauforderung auf mich wartet, wie ich sie noch nicht kennengelernt habe. Ich freue mich darauf, weil ich neugierig bin. Und gleichzeitig finde ich all das, was ich gerade geschrieben habe höllisch abstoßend. Nichts daran scheint mir eine gute Idee, bis auf das Fernziel. Das ist in seiner Abstraktheit allerdings derart rational, dass meine Angst beinah unberührt einfach weiter pocht.