Anxiety: Über Begrifflichkeit

Ich mag die deutsche Sprache. Sie enthält wunderschöne, nicht zu übersetzende Worte, die wie im Falle des herrlichen Begriffs „Fernweh“ schnörkellos das bezeichnen, was gemeint ist. In Kombination mit den schier unendlichen Möglichkeiten, die sich dadurch bieten, dass sich im Deutschen Wörter zu unfassbar langen Kompositaketten verbinden lassen, empfinde ich die Sprache als ein präzises Werkzeug, mittels dessen ich meinen Gedanken näher kommen kann.

Ich möchte nicht allzu viel im sprachphilosophischen Brei wühlen, an dieser Stelle aber erwähnen, dass mich Texte wie der von Heinrich von Kleist „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ lange und intensiv beschäftigt haben: Ich glaube, dass der Mensch die Ausformulierung braucht, um sein Denken zu schärfen. Es kommt nicht von ungefähr, dass wir uns nach einem entspannten Abend mit Freunden häufig besser fühlen. Das hat nicht nur etwas damit zu tun, dass wir uns über Themen austauschen konnten, sondern auch damit, dass unsere Positionen durch ihre Verbalisierung an Kontur gewonnen haben.

Mir gefällt der passgenaue Ausdruck und aus genau diesem Grund mag ich das Wort „Angst“ nicht, zumindest nicht in dem Zusammenhang, in dem es für mich hier relevant ist.

Kinder werden mit diesem Begriff groß. Sie haben ständig Angst: Vor Menschen mit Bart. Vor Menschen in dunklen Klamotten. Vor Clowns, Hunden, Wasser und Maskottchen. Dann sagt eine meist ältere Person „Du musst keine Angst haben. Der/Die/Das tut dir nichts.“ und tröstet das furchtvolle Kind, indem sie es zum Beispiel auf den Arm nimmt. Denn wir leben hier in einer Welt, in der diese akute Form der Angst im Normalfall nicht benötigt wird. Ursprünglich ein nützliches Ding, das uns schnell und instinktiv flüchten ließ, ist es heute nur noch bedingt zu gebrauchen. Natürlich gibt es da draußen Gefahren: Höhe und Schnelligkeit sind sicherlich nicht in allen möglichen Nutzungsvarianten empfehlenswert. Aber scheue Angst hindert auch in Bezug auf diese beiden Beispiele: Ab und zu müssen wir in Hochhäuser, Treppen gehen oder Auto fahren und wenn das im weitesten Sinne normal geschieht, besteht hier kein Grund zur Beunruhigung.

Ich verbinde mit dem Begriff der Angst die Möglichkeit des rationalen Zugriffs: Ich bin also empfänglich dafür, dass mir erklärt wird, weshalb ich nicht in Gefahr schwebe. Sobald ich die Zusammenhänge begriffen habe, kann ich mich wieder beruhigen und aus sicherem Abstand den weiteren Verlauf beobachten. Für mich ist das Wort ziemlich konkret an ganz bestimmte Gegebenheiten gebunden, was ja auch aus seiner grammatischen Anbindung hervorgeht: Ich habe Angst vor etwas. In dieser Wendung steckt alles drin, womit ich zum einen den Anlass für das Gefühl meine, noch mehr allerdings die Möglichkeit, benennen zu können, was im Falle des Eintretens des gefürchteten Falls passiert.

Ich mag es, wenn Menschen als erste Reaktion auf meine Angst, die Augenbrauen heben und „Echt?“ sagen, weil es mir vor Augen führt, dass es nicht der Normalfall ist. Was mir nicht gefällt, ist, wenn sie dann sagen: „Aber davor muss man doch keine Angst haben.“ und das Thema wechseln, so, als ob sie mit dieser exquisiten Perspektive auf das Thema ‚Kotzen in der Öffentlichkeit‘ gute 25 Jahre Angststörung erleuchtet hätten.
Es ist der Punkt, unter dem ich vielleicht am meisten leide: Das Bewusstsein über die Irrationalität meiner Angst. Ich stehe, wie es so schön heißt, neben mir und kann dabei zu sehen, wie sich mein Körper abkoppelt und sich auf ein scheues Pferd setzt, dass innerhalb kürzester Zeit in heller Panik davon prescht. Keine Chance, es wieder aufzuzäumen, ich kann nur darauf warten, dass es wiederkommt und dabei zu schauen, wie es am Weidezaun mit geblähten Nüstern auf und ab rennt. Und dann kommt jemand, der Pferde in der fünften Klasse in Bio hatte und erklärt fix, was zu tun ist.

Der Zugriff fehlt. Da ist kein rationaler Moment. Wenn der da wäre, hätte ich kein Problem, denn ich weiß, dass ich überreagiere. Ich vergleiche das gerne mit einer Allergie: Es ist super, ein Immunsystem zu haben, aber manchmal übertreibt es.

Das Englische bietet hier eine Begrifflichkeit, die wesentlich angenehmer finde. Vielleicht auch, weil ich sie, dadurch, dass ich sie erst relativ spät gelernt habe, als neutral bis medizinische Vokabel empfinde, die einem Fachwort gleichkommt: Anxiety. Aus dem Stegreif komme ich aus meinem Schulenglisch heraus auf drei Ausdrucksvarianten für Angst im Englischen:
– fear of sth
– to be afraid of sth
– anxiety for
Spielarten davon gibt es in beiden Sprachen: Schreck, Furcht, Sorge.

Ich ringe in diesem Zusammenhang ohnehin schnell nach Wörtern, weil meine Gedanken noch zu unpräzise sind – gepaart mit einer grundlegenden Scham fällt es mir schwer, meine Emotionen und Gedanken geordnet wiederzugeben. Hinzu kommt meine Unzufriedenheit über „Angst“: Wenn kleine Trigger Kopf und Körper in Panik ausbrechen lassen, dann stimmt dieses Wort nicht. Es sind Momente absoluter Hilf- und Ratlosigkeit, in denen mich Teile, die zu mir gehören, gewaltsam von meiner Vernunft trennen. Das ist nicht gesund, es ist nicht normal, es wird behandelt, ich habe eine Diagnose, ein Rezept vom Hausarzt und die Krankenkasse weiß auch Bescheid: Mir fehlt ein deutsches Wort mit medizinischer Relevanz, um schneller unmissverständlich klar zu machen, dass das kein Spleen ist, den ich pflege.

In dem Anamnesebogen, den ich zu Beginn der Therapie ausgefüllt habe, wurde unter anderem die Frage gestellt, wie ich „mein Problem“ bezeichne, wenn ich darüber spreche. Darüber habe ich länger nachdenken müssen, bis ich letztlich ‚es‘ und ‚Diese Sache‘ geschrieben haben. Ich merke, dass sich die Benennungsweisen schnell verändern und bin gespannt, wie sich diese Wortfindung im weiteren Verlauf entwickelt.