#metoo

Ich nehme das Dossier der ZEIT 5/2018 zum Anlass, diesen Blogpost zu schreiben. Dort wird geschildert, wie Schauspielerin Esther Gemsch von Dieter Wedel bedrängt, gewürgt, beinah vergewaltigt und bis zur Halswirbelverletzung gegen das Bett geschleudert wurde.

So etwas ist mir Gott sei Dank nie passiert und es liegt mir fern, meine Schnittstellen mit der Debatte mit derartigen Vorfällen gleichstellen zu wollen. Anknüpfungspunkt ist mir der Eindruck, der das Kollektiv hinterlassen hat, das diese Vorfälle aus der Nähe oder der Ferne mitbekam.

I

Meinen ersten sexuellen Übergriff habe ich während eines Praktikums erlebt. Im Rahmen einer Veranstaltung hat mir ein Mann des Sicherheitsdienstes auf den Hintern gefasst und einmal zugedrückt. Ich war ziemlich verdattert und bin einfach weitergegangen. Ich kann mich erinnern, dass ich einen kleinen Schweißausbruch hatte und mich beim Kaffeekochen ein bisschen sortieren musste. Ich habe ihm gegenüber nichts gesagt und meiner Praktikumsstelle gegenüber auch nicht.
Später nach Feierabend habe ich die Geschichte erzählt. Wieder zu etwas Mut gelangt, sagte ich, ich wolle das melden. Die Frauen und Männern der Runde, der ich die Geschichte erzählt habe, winkten ab. Ich hätte nun mal einen großen Po und so sei das mit den Männern, das werde ich schon noch lernen und ob ich wirklich wolle, dass der Mann wegen so einer Lappalie Schwierigkeiten bekomme.
Ich war verunsichert. Ich hielt große Stücke auf die Leute, die ich als grundsätzlich empathiefähig und mindestens durchschnittlich intelligent hielt und noch halte.
Ich beruhigte mich und ließ die Sache auf sich beruhen.

II

Vor etwa sechs Jahren neigte sich mein erstes Hochschulsemester dem Ende entgegen. Ich war 21 und voller Feuereifer für mein frisches Studium. Während des Semesters hatte ein junger Dozent, damals Doktorand, Kontakt zu mir aufgenommen. Ich belegte bei ihm ein Seminar, in dem es um Medienphilsophie ging. Er habe meinen Blog entdeckt, ihm gefiele, wie und was ich schreibe. Man könne sich ja mal treffen, er habe Kontakte zum Landtag in Hannover, vielleicht könne er da was vermitteln. Ich fand das freilich ziemlich gut und sah mich schon als Stipendiatin mein Studium in Rekordzeit mit sehr guten Noten abschließen, promovieren und politische Karriere machen. Der Dozent erzählte von sich, seinem Werdegang, davon, dass er eine schwere Krankheit hätte, wie lange seine Beziehungen bisher hielten und dass er nach seinem Grundstudium Gott sei Dank einiges „nachgeholt“ habe. Ich wurde zwar stutzig, wollte mir aber natürlich nicht um den Kontakt zu Bestnoten und Karriereleiter verbauen.
Dann bekam ich mit, dass er mit einer Kommilitonin mailte, die damals in einer Band sang. Ihm gefiele die Musik und er habe Kontakte und so weiter und so fort. Außerdem Sätze wie „Den lila Pulli heute habe ich nur für dich angezogen.“
Ab da war ich so misstrauisch, dass ich den Mailverkehr einschlafen ließ. Mir war klar, dass die Kontakte zum Landtag vielleicht vorhanden waren, aber nicht hergestellt werden sollten. Außerdem war ich natürlich gekränkt.

Ich wollte trotzdem eine Hausarbeit bei ihm schreiben, weil ich mir sagte: Du bist professioneller als das. Und freilich habe ich vorausgesetzt, auch er könne sich auf ein Mindestmaß Professionalität einlassen.
Ich schickte ihm meine Idee zu einer Hausarbeit und erhielt eine Antwort, die teilweise auf mein Hausarbeitsthema (Facebook und akratische Handlungen) einging und mit der Frage endete, ob „es für mich Tabus in der Auswahl möglicher Sexualpartner“ gäbe.
Ich wimmelte ihn ab, habe die Hausarbeit gecancelt und nie wieder ein Seminar bei ihm belegt.
Er hat die Uni irgendwann verlassen und 2016 in Heidelberg promoviert. In der Zeit, in der er in Hannover war, häuften sich die Geschichten um ihm. Ständig kam einem etwas zu Ohren, irgendjemand wusste immer, wer ihm zuletzt auf den Leim gegangen war. Vor einigen Wochen saß ich nach einer Veranstaltung mit Dozierenden meines Instituts zusammen, denen ohne namentliche Nennung sofort klar war, um wen es geht.

Reaktionen

Als ich die Frage nach den Tabus und den Sexualpartnern gelesen hatte, las ich sie nochmal und nochmal. Dann rief ich meine Mutter an, die als entschiedenste Frau in meinem Umfeld hoffentlich die richtigen Worte finden würde. Sie riet mir von der Hausarbeit ab, sowas ginge nicht, aber ich solle mich erst mal beruhigen. Ich war nämlich ziemlich durch den Wind, sauer und verwirrt: War das dieses akademische Leben? Aha.
Dann ging ich in die WG-Küche. Die beiden Mitbewohnerinnen waren angemessen empört, aber mussten dann auch los.

Ich ging zur Gleichstellungsbeauftragen. Sie sagte: Nun, es ist ja nichts passiert, was gegen Ihren Willen gewesen ist, oder? Ich kann da leider nichts machen. Vielleicht meiden Sie den Mann künftig lieber?

Ein Jahr später an einem Donnerstag kam die Fachrat der Studierenden meines Instituts zusammen. Ich war seit dem ersten Semester Mitglied des Fachrats, wir organisierten Sommerfeste, Filmabende und kümmerten uns im weitesten Sinne um die Belange der Studierenden. An diesem Abend ging es um den Preis für exzellente Lehre, der regelmäßig an Dozierende verliehen wurde. Der Verfasser der obig zitierten Frage wurde in die Runde geworfen, ob wir den nicht für den Preis vorschlagen wollen.
Ich sagte, ich wolle vorher etwas erzählen, wir schlossen die Tür, ich erzählte obige Geschichte und die nickenden Köpfe verrieten mir, dass der Plot so richtig niemandem überraschte.
Ich weiß gar nicht mehr, auf was wir uns geeinigt haben. Ich erinnere nur, dass die Nominierung nicht gleich vom Tisch war, da sich besonders eine Kommilitonin dafür stark machte, dass er doch aber hervorragende Lehre betreibe und man doch nicht verantwortlich sein wolle für das Scheitern einer so vielversprechenden Hochschulexistenz.

Genau das hält mich auch hier davon ab, seinen Namen zu nennen. Ich denke: Es ist doch nichts passiert. Er hat dir nichts getan. Gleichzeitig steht die Frage da: Wenn du es ’nichts‘ findest, weshalb erzählst du es dann? Weshalb geht es dir dann immer noch im Kopf herum?
Ich weiß, dass dieser Mann systematisch besonders Erstsemester angeschrieben und eingewickelt. Ich weiß, dass einige von ihnen sich mit ihm getroffen haben in dem Glauben, sie seien die einzigen.

Ausnutzen der mächtigeren Position. Ausnutzen von Abhängigkeiten. Diese Prädikate passen in jedem Fall auf das Profil dieser Masche.

Eine Masche war das definitiv. Und damit möchte ich in eine kleine Wutrede überleiten:
Ich habe im Kontext dieser Posse immer wieder gehört, dass er „eben ein Mann“ sei. WAS IST FALSCH MIT EUCH? Der Typ hat einen Doktor in Philosophie, IN ETHIK! Der weiß, was er tut und er tut es trotzdem. Er weiß um die Position, in der sich die Studentinnen befinden. Er ist reflektiert genug, um zu wissen, dass „Freiwilligkeit“ kein nur einmal einfach auszulegender Begriff ist. Es geht nicht darum, dass da ein Typ einer Frau nach zwei Bier an der Bar zu nahe kommt (auch wenn ich in Rage auch gerne darüber reden würde.), sondern um systematische und damit bewusste Ausnutzung seiner Position, an deren Ende am besten ein „Aber sie hat es doch freiwillig gemacht.“-Vögelchen steht.
Ich möchte brechen auf den Mann, der das OPFER (sic.) seiner Triebe ist. WAS IST FALSCH MIT EUCH? Die Frau als Co-Opfer, als Kollateralschaden, als unabänderlicher Katalysator des EIGENTLICHEN OPFERS?
Ich meine, wie einfach ist das denn: Der plötzliche Trieb als etwas wie Alkohol oder Drogen, das einfach hier und da von der Verantwortung für große Scheiße entbindet. FUCK YOU.

Wir haben in der Fachschaft die Füße stillgehalten und ein paar Semester später Ärger vom StuRa oder AsTA oder irgendeinem anderen extrem großen, wichtigen Organ der studentischen Selbstverwaltung dafür Ärger bekommen: Es sei unsere Aufgabe als Fachrat, dagegen vorzugehen.
Unser Versäumnis hat diese Institutionen nicht tätig werden lassen. Niemand wurde tätig. Ich heute werde auch nicht wirklich tätig, weil ich den Namen nicht preisgebe. Weil ich nicht verantwortlich sein will für Probleme, Karrierebruch und Arbeitslosigkeit. Oder ein vergleichbares Szenario. Weil ich mich dafür schäme, es nur immer wieder bei Gelegenheit zu erwähnen und dafür, damals nicht wenigstens mit einem unserer Profs gesprochen zu haben. Weil etwas in mir denkt: Aber es doch gar nichts passiert.

Wette

Ich wette, dass an beinah allen Universitäten Vorfälle in mindestens diesem Ausmaß passieren. Wahrscheinlich an jeder. Tutor gegenüber Tutandin, Doktorand gegenüber Studentin, Professor gegenüber Doktorandin und so weiter. Vielleicht wird das die nächste Welle in dieser Debatte.
Ich hoffe, dass jedem kleinen Licht, der etwas dieser Art in seiner Vita hat, in diesen Tagen der Arsch auf Grundeis geht. Und ich hoffe künftig auf mehr Entschiedenheit und mehr Solidarität. Und mutige Frauen, die ihre Geschichten erzählen. Vielleicht auch mutig genug, um Namen zu nennen und damit tatsächliche Veränderung loszutreten.

Ich habe mich damals in meiner Ratlosigkeit allein gelassen gefühlt. Es geht nicht um Straftaten oder um körperliche Verletzungen. Es ist eine Erniedrigung, die in einer Grauzone stattfindet, die die Rechtfertigung von Konsequenzen offenbar schwierig macht. Opfer, die sich nicht Opfer genug sind, um die Täter zu konfrontieren. Die Angst, nicht verhältnismäßig zu handeln.
Mich hat dieser Text und besonders seine Veröffentlichung einiges an Überwindung gekostet, denn ich bin von seiner Relevanz immer noch nicht gänzlich überzeugt, schließlich ist ja nichts passiert.