Meine Angst

Wovor ich mich fürchte


Sie kommt jeden Tag, mal kürzer oder länger, mal stärker mal schwächer. Aber wenn ich morgens aufwache, weiß ich, dass ich meiner Angst im Laufe des Tages begegnen werde. Sie begleitet mich, seitdem ich denken kann. Kindergarten, Grundschule, Gymnasium, Klassenfahrten, Geburtstage, Reisen. Immer dabei.

Ich habe Angst davor, mich in der Öffentlichkeit übergeben zu müssen. Das heißt, dass sich meine Angststörung aus zwei Komponenten zusammensetzt, zum einen: Das Kotzen. Zum anderen: Menschen.
Niemand findet es besonders schön, sich zu erbrechen. Wie mit den meisten Dingen auf dieser Welt gibt es Personen, die damit mehr und Leute, die damit weniger Probleme haben. Für mich ist die Vorstellung, mir einen Magen-Darm-Virus einzufangen unbeschreiblich schlimm. Diese paar Zeilen zu schreiben sorgt allein dafür, dass mein Herz kräftiger schlägt und ich ein Kribbeln in den Oberschenkeln spüre, typische Angstanzeichen. Da jeder Körper mit dem eigentlich praktischen Feature des kotzen Könnens ausgestattet ist, bedeutet das, dass diejenigen, die Angst vor eben jener Funktion haben, sich ständig einer latenten Gefahr ausgesetzt fühlen. Ich verbringe relativ viel Zeit am Tag damit, zu überprüfen, wie es mir gerade geht, um auf kleinste Anzeichen reagieren zu können.

Das allein würde man „Emetophobie“ nennen: Die Angst davor, sich zu erbrechen. Die spielt bei mir allerdings eine eher untergeordnete Rolle. Ich denke schon, dass ich in Bezug auf Magenverstimmungen besonders empfindlich bin, wirkliche Probleme bekomme ich allerdings erst, wenn andere Personen involviert sind, ich mich also in Anwesenheit anderer Menschen übergeben könnte. Dies wandelt die Diagnose in eine sogenannte „Agoraphobie“. Wikipedia schreibt dazu:

„Als Agoraphobie oder Platzangst bezeichnet man eine bestimmte Form der Angststörung. Dabei wird die Angst durch bestimmte Orte und Situationen wie weite Plätze oder Menschengedränge ausgelöst. Die Betroffenen vermeiden die auslösenden Situationen und können im Extremfall nicht mehr die eigene Wohnung verlassen. Eine Agoraphobie liegt auch dann vor, wenn Menschen angstbedingt weite Plätze oder das Reisen allein oder generell meiden.“

Ich habe mein Leben trotz dieser Angst ganz gut bestreiten können. Personen, bei denen die Phobie stark ausgeprägt ist, können über Isolation in eine Depression rutschen, weil sie nicht die Kraft haben, sich anderen Personen auszusetzen. Sie können die Schule nicht beenden, weil es ihnen nicht möglich ist, sich ohne einfache Exitmöglichkeit in einem geschlossenen Raum aufzuhalten – Klassenarbeiten zu schreiben wird da zu einem Ding der Unmöglichkeit.
Ich bin ganz normal zur Schule gegangen, habe Abitur, studiere, habe ein normales Sozialleben mit Freundschaft und Liebe, ich arbeite. Es gibt wenige Situationen, die ich meide, sofern ich kann: Mit fremden Leuten Auto fahren (Mitfahrgelegenheit), oder im Theater den Platz in der Mitte der Reihe wählen. Situationen, aus denen ich nicht raus kann, ohne mich zu erklären, können mich enorm stressen. Ich setze mich ihnen trotzdem aus, halte Referate und verdiene mein Geld mit Führungen in einem kleinen Museum. Es ist faszinierend zu merken, dass ich während 45 Minuten Führung eine Panikattacke haben kann und am Ende niemand etwas gemerkt hat. Erschreckend: Diese Dreiviertelstunde ist danach wie gelöscht. Ich kann nicht sagen, was innerhalb dieses Zeitraums passiert ist. Ich weiß nur, dass ich es geschafft habe.

Mein Umfeld weiß von dem tatsächlichen Ausmaß meiner Angst erst seit Kurzem, denn ich schäme mich unbeschreiblich für diesen wunden Punkt. Jedes Mal, wenn ich die Erfahrung mache, dass mein Gegenüber nicht negativ auf mein Outing reagiert, wird es ein bisschen leichter. Die ersten Male sind mir die Wörter nicht aus dem Mund gekommen, die Stimmbänder haben sich einfach nicht geregt, wie vernagelt. Die Weigerung hat dazu geführt, dass nie Rücksicht auf meine Gedankenspiele genommen wurde. Es ist müßig sich zu überlegen, wie es heute wäre, wenn ich früher offensiver mit der Angst umgegangen wäre. Positiv ist in jedem Fall, dass ich auf diese Weise immer wieder dazu gezwungen worden bin, in der Mitte des Theaters zu sitzen.

Ich beschäftige mich momentan so intensiv wie noch nie mit meiner Angst, bin seit sechs Wochen in therapeutischer Behandlung und habe mir vorgenommen, diesen Ballast nach und nach abzutragen. Ich habe bereits einige Texte darüber geschrieben. In Momenten der Furcht bricht das Schreiben die abstrakte Angst auf ein so konkretes Level herunter, auf dem sie bald wieder erträglich wird. Da mir der Austausch darüber gefällt und ich den Eindruck habe, dass Offenheit in Bezug auf psychische Themen gut tut, habe ich beschlossen, Teile dessen, was ich an Gedanken und Gefühlen verschriftliche, hier zu posten. Ich freue mich über jeden, der hier ab und zu eine Zeile liest und lade extrem herzlich dazu ein, jede Frage, die euch in den Sinn kommt, in die Kommentare zu schreiben oder zu twittern. Ob und wie ich sie beantworte, sehen wir dann.