Eine ganze Zeit

Ich habe Anfang 2018 ein Abo der ZEIT abgeschlossen und hatte vor, ab sofort regelmäßig Zeitung zu lesen. Habe ich auch, aber zugegebenermaßen nie ganz. So eine ZEIT wiegt ne Menge, ist riesig und hat viele Teile. Ihr Herr zu werden ist schon logistisch eine Herausforderung, so zum Beispiel muss zunächst die passende Falttechnik herausgefunden werden, bevor man sie im Zug lesen kann (es sei denn, man ist im Besitz eines Bizeps, der stark genug ist, die zeltgroßte Zeitung eine Zugfahrtslänge vor sich zu halten, hierfür wird ein freier Nebenplatz vorausgesetzt).

Die Titelseite ist so aktuell wie imposant: „Warum ist Wohnen so teuer?“, wird gefragt, darunter schwimmt ein (Immobilien)Hai zwischen Häuserfassaden herum. Darüber prangt in Majuskeln (das ist klug für Großbuchstabe): DIE ZEIT. Darunter in kleineren Großbuchstaben WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR. Warum zwischen POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN keine Kommas stehen, weiß ich nicht.

Ich lese die Zeitung ganz durch, dafür brauche ich sechs Tage. Ich lese sie in der vorgeschlagenen Reihenfolge und als ich die letzte Seite umschlage, erstreckt sich vor mir das Inhaltsverzeichnis wie eine philosophische Pointe. Ein erhabenes Gefühl, auf dieser gigantischen Seite den Inhalt aufgelistet zu sehen, durch den ich mich in der vergangenen Woche gewühlt habe. Wie das Ende einer strapaziösen Bergwanderung, an deren Ende der Blick über den zurückgelegten Weg wartet.

Eine wunderbare Strapaze, diese ZEIT. 69 Einträge zählt das Inhaltsverzeichnis, das da nun vor mir liegt und nicht die Hälfte dieser Überschriften hätte ich im Internet angeklickt, dort hätte ich wahrscheinlich keinen einzigen Artikel komplett gelesen. Aber da ich für das Gerät nun mal bezahlt habe, möchte ich es auch nutzen. Das habe ich die bisherigen drei Monate meines Abos nur peripher getan. Aber auch in diesen bisherigen Ausgaben habe ich mehr gelesen als mit viel gutem Willen an öden Bürovormittagen auf den Nachrichtenseiten dieses Internets, an dessen Rand stets der nächste noch interessantere Artikel oder irgendwas gutes zum Kaufen lockt.

Das Tolle an einer Zeitung ist, dass sie nicht so endlos ist wie das Internet. Das gilt sogar für die ZEIT, auch wenn sich das donnerstags anders anfühlt. Für die No. 3 des Jahres 2018 hatte ich mir nun die 100% vorgenommen, auch um herauszufinden, ob dies wenigstens mit einem konzentrierten Leseehrgeiz zu schaffen ist. Nun, 12 Stunden bevor ZEIT No. 4 / 2018 kommt, kann ich sagen: Ja, es geht. Mit abends Zeitung statt Netflix und morgens eine Stunde früher aufstehen, um vor der Uni noch zu lesen. Ich war quasi eine Fitnessbloggerin, nur mit Zeitung.

Am Ende stehen mehrere Erkenntnisse:

  1. Ich weiß über wenige Dinge so viel wie ich gerne würde. Dazu gehören u.A. die Personalsituation im Weißen Haus, die Unruhen im Iran, Erdogan, Frankreichs Innen- und Außenpolitik, Kunst, Medizin, Geologie und der Kunstmarkt
  2.  Ich habe alle Artikel – bis auf „Staatsfonds: Deutschland könnte sich Norwegen zum Vorbild machen“ – trotz teilweise sehr geringer oder gar keiner Kenntnisse gelesen, verstanden und interessant gefunden.
  3. 2. liegt wahrscheinlich nicht an mir, sondern an Journalisten und Journalistinnen, die einen wirklich guten Job machen. (Wobei ich F. Bieber und B. Waltmann, was die Verfasser des Norwegenfondsartikels sind, nicht zu nahe treten möchte. Wenn ich euren Artikel drei Mal gelesen hätte, wäre ich ihm bestimmt auf die Spur gekommen.)

Zu 1. möchte ich anmerken, dass ich das zwar einerseits schon wusste, es andererseits aber auch schmerzhaft fand, von versierten Texten vor Augen geführt zu bekommen, wie wenig Ahnung ich habe. Ich würde mein Wissen gerne vertiefen, aber wenn ich damit sofort begonnen hätte, wäre ich nicht dazu gekommen, die Zeitung zu Ende zu lesen. Es knüpft also Erkenntnis 1b an: Diesem Wunsch werde ich wahrscheinlich nie entsprechen können. Und aus genau diesem Grund ist es gut, dass es Dinge wie die ZEIT gibt, in der kluge Menschen Themen und Dinge so aufbereiten, dass sie zugewandten Menschen zugänglich werden.
Und dabei ist „zugewandt“ treffender gesagt als „interessiert“, denn wie gesagt: Im Internet drauf gestoßen, hätte ich viele Artikel nicht auch nur angeklickt. Ich würde mir beispielsweise nie eine Zeitung kaufen, die sich ausschließlich mit wirtschaftlichen Themen auseinandersetzt. Aber in der breitgefächerten Aufstellung der Zeitung fügt sich der Wirtschaftsteil logisch als ein weiteres gesellschaftliches Ressorts ein, in dem die Artikel in einer angenehmen Sprache verfasst worden sind, die die Rückbindung an Phänomene, die jeden von uns betreffen, verständlich und plausibel macht.
Es ist toll, sich mit Muße und Geduld diesen Artikeln zu widmen. An einigen bleiben die Gedanken kürzer hängen, andere werfen Fragen in mir auf, die noch Stunden später laut sind. Ich bin sowieso ein eher mitteilungsfreudiger Mensch – aber wenn ich mich einigen Stunden der Zeitung gewidmet habe, verstehe ich meine Mutter immer am besten, die ihre Redebeiträge (Dass ich „Redebeiträge schreibe, lässt einen kleinen Rückschluss auf die Diskussionskultur in meinem familiären Umfeld zu) gerne mit: „Neulich stand in der Sueddeutschen, dass…“ einleitet. So eine Zeitung sorgt für rege Gedanken.
Nicht zuletzt weil man auf Meinungen stößt, die nicht der eigenen entsprechen, aber nicht durch emotionale Randale oder moralische Zeigefinger gestützt werden, sondern durch formulierte Überlegungen und gefeilte Argumente. Auch diese teile ich nicht immer, aber ich bin dazu bereit, mich mit ihnen auseinander zu setzen und mich von ihnen prüfen zu lassen. Denn mit einem bloßen „Nein, das finde ich nicht.“ kann ich diese Kommentare nicht überblättern. Sie wühlen mich auf und stellen meine eigenen Argumente auf die Probe: Greifen diese hier? Er ist spannend, dieser einseitige Austausch.

Ich fühle mich nach dieser Woche ZEIT so informiert und gleichzeitig so uninformiert wie noch nie. Über „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ haben schon ziemlich versierte Menschen Essays geschrieben, ich möchte mich da (heute) nicht einreihen, auch wenn mich die Wucht dieser Erkenntnis jedes Mal verblüfft, wenn sie mich packt. Ich bin demütig und neugierig und habe heute Abend Lust dazu, von nun an jeden Tag mit Zeitungen und Wikipedia zu verbringen, um immer mehr zu verstehen. Leider bekommt man dafür weder einen Universitätsabschluss noch Geld. Es ist ziemlich aufwändig, eine mündige und informierte Bürgerin zu werden, aber es macht irgendwie auch ziemlich viel Spaß.*

 

 

*Auf ’sich ZEIT nehmen‘-Wortspiele als Pointe dieses Blogbeitrags wurde bewusst verzichtet.