Ich bin am 12. Juli 1990 geboren und selbst die, die nur drei Jahre älter sind als ich, reißt diese Geburtsjahreszahl zu einem „Dann bist du ja nach der Wende geboren!“ hin. Ich kenne keine geteilte Bundesrepublik, ich kenne das Land nicht als Nachbar zur DDR.
Ich bin in einem Dorf groß geworden, von dem aus man gerade mal eine halbe Stunde mit dem Auto bis nach Helmstedt braucht, wo früher der nächste Grenzübergang lag. Meine Eltern sind mit meinen Geschwistern in der 80ern ins Zonenrandgebiet gezogen, denn hier waren die Immobilien günstig. Meine Mutter, so erzählt es die Familienchronik, hat meinen Geschwistern einst gesagt: „Ich werde den Fall der Mauer nicht mehr erleben. Vielleicht werdet ihr es.“
Dann kam alles anders, besagte Mutter lud besagte Geschwister ins Auto, als die Grenzen geöffnet wurden und die Fotos dazu finden sich heute im Familienalbum. Meine Mutter hat dann jahrelang als Lehrerin an einem Gymnasium in Osterwieck, Sachsen-Anhalt, gearbeitet und kann über diese Zeit großartige wie erschreckende Geschichten erzählen.
1991 bin ich das erste Mal längere Zeit in der ehemaligen DDR, an der Ostsee habe ich laufen gelernt und 18 Jahre lang jeden Sommer drei Wochen Urlaub gemacht. Radtouren, Drachensteigen, Tischtennis, baden gehen. Immer die gleiche Bungalowsiedlung und es war toll.
Vor drei Jahren bin ich das erste Mal wieder dort gewesen, vier Tage im Ostseebad Selin. Eine kleine Pension irgendwo. Ich hatte für die paar Tage nur einen Pulli eingepackt, der war schwarz und mit weiß drauf gedruckt waren drei Leute, die sich an den Händen halten und laufen, darüber stand ‚Refugees Welcome‘. Ich habe keine wirklich schlechten Erfahrungen gemacht in diesem Ort in diesem Pulli, auch wenn ich mich nicht uneingeschränkt wohl in ihm gefühlt habe angesichts der Flyer, die in eindeutiger Rhetorik über „Fremdlinge“ aufgeklärt haben und eines morgens an jeder Touri-Info und jeder Pensionstür geklebt waren. Da hatte sich jemand richtig Mühe gegeben: Schreiben, Drucken, Nachtspaziergang, Tesafilm. Mit der Pensionsfrau hatte ich ein kurzes Gespräch darüber, dass sie vermute, dass Städter „dazu“ vielleicht einen Zugang finden und dass sie sich einfach sorge, dass ihre Winzpension nicht mehr laufen würde, wenn man sich nun auch noch hier Gedanken um „die“ machen müsse. Sie war sehr freundlich dabei, einerseits sicher, andererseits schien sie auch beschämt oder zumindest nicht in einem Maße überzeugt, als dass sie mir gegenüber Parolen oder Floskeln bemüht hätte.
Ich habe ihr daraufhin erklärt, in welchem Zusammenhang Rechte und Pflichten stehen, was das Recht auf Flucht bedeutet, habe ihr beispielhaft von zwei Fluchtschicksalen erzählt und ihr auf meinem Telefon ein paar Statistiken zu Gewalt, Steuerflucht und Einwanderung gezeigt. Dann habe ich ihr gesagt, dass ihre Sicht der Dinge unaufgeklärt, latent rassistisch, und irgendwie asozial sei und sie nach Jahren endlich Mal hinter ihrem staubig-eisernen Vorhang hervorkriechen soll.
Nein. Natürlich nicht. Dafür bin ich nicht schlagfertig genug und es wäre auch nicht passend gewesen. Die Frau kannte meine auf meinen Pulli gedruckte Position und sie erzählt mir höflich und mit Achtung vor meiner Meinung über ihre Sicht auf die Dinge. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte, habe bezahlt und bin abgereist, zurück in die Stadt, die mit „denen“ keine Probleme hat.
Nun ist heute der Tag der Deutschen Einheit, Feiertag und alle wissen, es gibt wenig Einheit und es gibt wenig zu feiern, denn vor ein paar Tagen haben die östlichen Bundesländer einen großen Stinkefinger gen Westen gehisst. Dieser Westen klagt über den Wahlausgang, über Sachsen und Dresden, über die AfD und den jammernden Ossi, als sei diese Sache mit der Wiedervereinigung ein unliebsam gewordenes Abo, aus der man aufgrund unterschiedlicher Kompliziertheiten nicht herausfindet. Ich lese in der ZEIT no. 40 über den „ganz nahen Osten“: „Köpping [Sachsens Integrationsministerin, SPD] nahm die Menschen beim Wort. Seit einem Jahr fährt sie durch Sachsen, hört sich den Frust an. Sie glaubt, dass dieser Frust die Leute sonst zu den Populisten führt. Insgeheim hat sie gehofft, dass ihre Kampagne Teil des SPD-Bundestagswahlkampfs werden könnte. Aber das passierte nicht. „Von westdeutschen Kollegen habe ich mir sagen lassen: Die Ost-Ungerechtigkeiten, die interessieren keinen.“
So wenig ich mich erwärmen kann, für die immer währenden Opferklänge aus den sog. Neuen Bundesländern: Dieses Desinteresse scheint offenbar nur faule Früchte zu tragen. Und so wenig ich von der Kooperation mit AfD&Co. halte: In Sachsen hat diese Partei, wie wir inzwischen alle wissen, die Mehrzahl der Wählerstimmen eingefahren. Eine Taktik, die auf die Verweigerung, Ignoranz und Taubheit baut, erscheint mir auf lange Sicht ebenfalls keine fruchtbare Basis für positive Veränderungen.
Zu leugnen, dass der Erfolg der AfD nichts mit strukturellen Schwierigkeiten im Osten Deutschlands zu tun hat, wäre naiv und kurzsichtig. Zu behaupten, der Westen des Landes hätte mit dem östlichen Teil nichts zu tun aber auch.
Ich habe dieser Tage das Gefühl, es geht in diesen Debatten um das Ehepaar Deutschland, das nicht mehr miteinander reden will, das sich gerne nie geheiratet hätte, das nicht weiß, wo es Verantwortliche findet oder wie es Verantwortung übernehmen kann, weil es gerade auch überhaupt nicht dazu bereit zu sein scheint, schließlich ist der andere Schuld. Und so brüllt man sich an über einen großen Haufen enttäuschter Erwartungen und gescheiterter Pläne hinweg.
Und trotzdem ist heute Feiertag und ich finde das gut, denn ich hoffe wirklich sehr, dass dieser 3. Oktober irgendwann nur noch ein Datum ist, an dem sich die Leute daran erinnern, dass es die Deutsche Einheit lange nicht gab, dass da erst eine Grenze, dann eine Mauer und dann Vorwürfe, Missgunst und Unverständnis waren. Ich hoffe, es findet sich bald der Paartherapeut mit der passenden Idee und macht aus dieser verkrachten Beziehung ein funktionierendes Paar.