Als die Sabberfäden zart mein Ohr streiften, als wir mit allerletzter Kraft unser Fort erreichten, als du’s grad noch ins Bad schafftest, aber nicht zum Klo und dann irgendwas in den Haaren hattest und ich wusste wieso: Es ist nicht das, was man empfindet, nicht nur das, was man fühlt nicht, was man voller Sehnsucht sucht – Liebe ist das, was man tut.
Es gibt eine Band, die heißt Kettcar. Diese Band hat ein Lied, das heißt Rettung. Ich habe es das erste Mal Anfang 2019 gehört, denn ich hatte eine Karte für deren Konzert in Wolfsburg. Die neueren Alben kannte ich nur teilweise und um mich in Stimmung zu bringen, shufflete ich einige Playlists. Das Lied, um das es hier geht, beginnt mit einem nebelhornähnlichen Sound, zügiger Beat, schnelle Gitarren. Der Gesang, der dann einsetzt, ist dann relativ langsam, bevor er beginnt, endet der Bass, jedes Wort ist perfekt zu verstehen.
Der Sänger schildert das Ende eines alkoholreichen Abends, den er mit seiner Freundin verbracht hat. Die hat wesentlich zu viel getrunken, er muss sie ein Stück tragen, als sie zuhause ankommen, schafft sie es nicht mehr rechtzeitig zum Klo und kotzt auf den Badfußboden. Er bringt ihr Wasser, pult Essen aus ihren Haaren und wischt weg, was wegzuwischen ist. Das sind die letzten Verse des Songs:
„Und du sagtest: „Ich möchte nicht, dass du mich so siehst.
Ich will hier leise sterben und ich möchte, dass du gehst“
Alle Fenster auf Kipp
und ich dachte: Na gut
nicht, was man empfindet, es ist das, was man tut
Und im Türrahmen ein letzter Blick
auf dich und auf das Bild des Elends
auf dem Küchentisch dann eine Zeile:
„Guten Morgen, Liebe meines Lebens“
Es ist so, dass ich beim ersten Hören, wegschalten musste, weil die Handlung – ich stand in der Straßenbahn – blanke Panik in mir ausgelöst hat. Als mir klar war, worum es geht, suchte ich nach Möglichkeiten, das Lied aus allen Playlisten zu verbannen.
Aber es ging mir nicht aus dem Kopf. Der Mann, der gleich zu Beginn davon singt, dass er sie nicht zurücklassen würde in ihrer misslichen Lage: Ich wollte, einige Tage später, herausfinden, wie es wohl weitergeht in diesem Song. Ich saß im Büro, rief eine populäre Suchmaschine auf und öffnete die Lyrics. Erstmal lesen. Und was ich las, hat mich ge- und berührt gleichermaßen, denn in Worten der Alltäglichkeit ist dort ein Liebeslied geschrieben worden, das meine persönliche Katastrophe ummünzt in etwas, aus dem Liebe und Zuwendung erkenntlich werden.
Ich habe es immer gehasst, krank zu sein. Ich bin nach Möglichkeit mit Fieber in die Schule gegangen, habe Magen- und Darmgrippen auf dem Schulklo durchgestanden, alles, um zu vermeiden, dass ich zuhause im Bett liegen und mich bekümmern lassen muss. Bei meinen einzigen Alkoholabstürzen habe ich es immer noch weg von der Feier geschafft, um bloß keinem mit meiner Hilflosigkeit auf den Geist zu gehen: Du ruinierst hier niemanden den Abend! Auch nicht mit 2 Promille.
In diesem Song, in dieser Situation, in dieser Angst, bündelt sich nahezu alles: Sie strahlt von ihrem irrationalen Zentrum aus in jeden Lebensbereich. Sie führt dazu, dass ich mich bei Freundinnen entschuldige, wenn ich ihnen zu lange Sprachnachrichten schicke, weil mir meine Probleme im Vergleich zu ihren lächerlich vorkommen. Sie führt zu der grundlegenden Annahme, dass Zuneigung, die mir entgegen gebracht wird, an die Bedingung der Unkompliziertheit geknüpft ist. Das ist eine unfaire Unterstellung meinem Umfeld gegenüber. Es ist eine schwere Aufgabe für mich, diese Prämisse auf die Probe zu stellen, da ich zu viel Angst vor ihrer Bestätigung und der damit einhergehenden Ablehnung habe.
Aber genau solche Momente, wie das Lesen dieses Liedtextes, brechen meine seit 30 Jahren immer wieder betonierten Annahmen auf und öffnen ein ganz neues Spektrum, das ich unfassbar spannend und faszinierend finde: Das Gefühl der Sehnsucht nach genau diesem Szenario, der ruhigen, pragmatischen Zuwendung, dem zugeneigten Kümmern, ohne Augendrehen. Tatsächlich habe ich in meinem ganzen Leben nie eine gegenteilige Erfahrung gemacht – und dennoch ist die Sorge, die ungeliebte Last zu sein, groß und die Ursache dafür, dass ich bspw. immer lieber selbst gefahren bin, als Alkohol zu trinken.
Meine Therapeutin hat heute zum Abschluss der Sitzung gelacht, als ich gesagt habe: „Rational habe ich das inzwischen alles verstanden.“ und geantwortet: „Ich weiß, Frau Laut, Ihr Problem ist sicherlich nicht, dass sie zu wenig nachdenken.“ Und ich mochte sie sehr in diesem Moment und habe mich wiederholt sehr gut in dieser Therapieform gefühlt, in der es nicht um das Wühlen in vergangenen Ursachen geht, sondern um neue Erfahrungen durch neues Verhalten.
Rettung steht inzwischen übrigens sehr weit oben in meiner Lieblingsliedliste. Ich habe eine Weile gebraucht, ehe ich eh ganz durchhören konnte. Auf dem Konzert habe ich es laut und fröhlich mitgesungen mit dem warmen Glauben im Herz, mich selbst irgendwann retten lassen zu können – oder sogar selbst zu retten.